Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Sehr geehrter Herr Bundesminister des Auswärtigen,
Sehr geehrter Herr Bundesminister des Innern,
Sehr geehrter Herr Staatsminister für Kultur und Medien,
Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages,
Wir wenden uns an Sie als unabhängige Medienschaffende im Exil in Deutschland. Dank der Unterstützung der Bundesregierung und der Solidarität deutscher Kolleg:innen haben wir seit 2022 in Deutschland Schutz gefunden. Humanitäre Visa, Stipendien, Notfallfonds, Fördermittel für gemeinnützige Medienprojekte und Kooperationen mit deutschen Medienorganisationen ermöglichen vielen von uns, unsere Arbeit in Newsrooms und Investigativteams hier fortzusetzen.
Exilmedien spielen im Kampf gegen Desinformation eine wichtige Rolle. Koordinierte Manipulationen, Wahlbeeinflussungen und Verbreitung von Verschwörungsnarrativen stellen auch in Deutschland eine wachsende gesellschaftliche und politische Gefahr dar. Autoritäre Regime wie Russland setzen systematisch gezielte Desinformationskampagnen ein, um auch hierzulande den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu destabilisieren und politisches Vertrauen zu zerrütten.
Medienkompetenz und faktenbasierter investigativer Journalismus sind das beste Mittel, um dieser Bedrohung entgegenwirken. Exilmedien verfolgen Manipulationen in sozialen Medien, betreiben professionelle Faktenchecks und recherchieren Kriegsverbrechen, vor allem in der Ukraine. Wir verstärken die Stimmen unserer Kolleg:innen, die in autoritären Staaten durch politische Verfolgung zum Schweigen gebracht wurden. Tag für Tag decken wir Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Umgehungen von Sanktionen auf. Durch Kooperationen machen wir nicht nur Missstände und Verbrechen, sondern auch soziale Entwicklungen für die Öffentlichkeit in Deutschland sichtbar. In Anbetracht andauernder Konflikte und Genozide ist es von größter Bedeutung, über regionale und nationale Grenzen hinweg solidarisch zu sein, den Zugang zu verlässlichen Informationen zu gewährleisten und unsere Kolleg:innen aus Ländern wie Palästina, der Ukraine und dem Sudan sowie aus den Diasporas zu unterstützen.
Doch wir befinden uns in einer globalen Medienkrise, die uns besonders hart trifft. Unabhängige Medien stehen weltweit unter Druck. Journalist:innen in der Ukraine riskieren täglich ihr Leben. Vor allem in autoritären Staaten wie Afghanistan, Aserbaidschan, Belarus, Russland und dem Iran stehen Medienvertreter:innen vor existenziellen Bedrohungen. Bereits vor unserer Flucht oder Umsiedlung war es aufgrund von Krieg, Zensur und Repressionen zunehmend schwierig, tragfähige Geschäftsmodelle aufrechtzuerhalten. Das Exil brachte einen tiefgreifenden Einschnitt mit sich: Wir sind von Werbeeinnahmen und Spenden unserer Leser:innen abgeschnitten, leisten nun gemeinnützigen Journalismus und sind auf Fördermittel angewiesen.
Ohne stabile Finanzierung, rechtlichen Schutz und digitale Sicherheit stehen viele unabhängige Journalist:innen und Exilmedien im Jahr 2025 vor dem Zusammenbruch.
Ohne gezielte Unterstützung drohen die letzten freien Stimmen aus Kriegsgebieten und autoritären Regimen im Kampf gegen Desinformation zu verstummen. Um das stille Verschwinden unabhängiger Journalist:innen aus repressiven Staaten in der aktuellen Medienkrise zu verhindern, rufen wir dazu auf, existierende Programme weiterzuführen und auszubauen.
Im Einzelnen bitten wir die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag um folgende Massnahmen:
1. Gezielte Förderung zur Abfederung der Folgen der aktuellen Medienkrise:
- Ausbau der Unterstützung unabhängiger Medien in Krisenregionen und Wiederbelebung institutioneller Förderungsmittel für Exilmedien, etwa über Programme des Auswärtigen Amts und der BKM
- Ausweitung von Kooperationen, Praktika und Austausch mit deutschen Medienorganisationen z. B. im Rahmen des AA-Programms „Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland“
2. Effektive Gegenmaßnahmen gegen Desinformationskampagnen:
- Stärkung von Medienkompetenz in Deutschland, auch durch mehrsprachige Angebote für Migrant:innen
- Förderung eines grenzübergreifenden Social-Media-Monitorings und investigativer Recherchen
3. Deutschland als Zufluchtsort für gefährdete Journalist:innen aus repressiven Staaten erhalten:
- Wiedereinführung eines vereinfachten Verfahrens für humanitäre Visa
- Ausweitung von Schutzprogrammen auf Journalist:innen aus weiteren Krisenregionen und autoritären Regimen
4. Verteidigung von Pressefreiheit auf internationaler Ebene
- Einsatz aller diplomatischen Mittel zum Schutz der Medienpluralität, gegen Repression von Medienvertreter:innen und für die Freilassung politischer Gefangener
- Verstärkter Schutz vor Angriffen, transnationaler Repression und Überwachung
5. Maßnahmen zum Schutz des Medienpluralismus gegen Big-Tech-Monopole
- Wirksame Regulierung digitaler Medienkonzerne, um Desinformation und die Dominanz globaler Plattformen einzudämmen sowie eine algorithmische Benachteiligung von Exilmedien zu verhindern
- Förderung von Dialog und Kooperation zwischen Staat und Medien mit internationalen Plattformen wie Google, Meta, Telegram und TikTok
Deutschland ist und war einer der wichtigsten Zufluchtsorte für bedrohte Journalist:innen. Wir bitten Sie: Machen Sie aus dieser Position ein klares politisches Bekenntnis und ergreifen Sie konkrete Maßnahmen, um die verfolgten Stimmen aus autoritären Staaaten zu unterstützen. Sie sind wichtige Verbündete im Kampf gegen Desinformation und Propaganda. Deutschland kann in diesem Kampf und bei der Verteidigung der Pressefreiheit eine führende Rolle übernehmen, im eigenen Land und auch international.
Wir hoffen, dass wir Ihnen die Dringlichkeit der Aufgabe vermitteln konnten. Für weitere Angaben und Konsultationen stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen,
Unterzeichner:innen*
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Sayed Hassan Alemi
Chefredakteur, Rah-e Nejat — Afghanistan
Mohammed Al-Mathyab
Journalist — Syrien
Roman Anin
Gründer, IStories — Russland
Armen Aramyan
Gründungsredakteur, DOXA — Russland
Luis Assardo
Journalist — Guatemala
Roman Badanin
Chefredakteur, Proekt — Russland
Andrey Borzenko
Chefredakteur, Libo/Libo — Russland
Angelina Davydova
Journalistin — Russland
Roman Dobrokhotov
Chefredakteur, The Insider — Russland
Ilona Elyashevich
Manager, Zerkalo — Belarus
Ekaterina Fomina
Korrespondentin, TV Rain — Russland
Maskim Glikin
Redaktionsleiter, Mozhem Obyasnit — Russland
Parvana Gurbanova
Journalistin, Toplum TV — Aserbaidschan
Maiia Guseva
Datajournlistin — Russland
Matt Kasper
Geschäftsführer, Meydan TV & NEMO Network — Aserbaidschan
Valeria Kirsanova
Journalistin, TV Rain — Russland
Nikita Kondratyev
Journalist, IStories — Russland
Maksim Kurnikov
Chefredakteur, Echo — Russland
Ilya Kuzniatsou
Freier Fernsehproduzent, ARD — Belarus
Kseniya Lutskina
Journalistin, Belarusian Assosiation of Journalists — Belarus
Ivan Makridin
Mitgründer, Novaya Vkladka — Russland
Orkhan Mammad
Chefredakteur, Meydan TV — Aserbaidschan
Alesia Marokhovskaia
Chefredakteurin, Istories — Russland
Vasilii Matenov
CEO, Asians of Russia — Russland
Kirill Martynov
Redaktionsleiter, Novaya Gazeta Europe — Russland
Ekaterina Martynova
Publisher, DOXA — Russland
Artem Melnik
Journalist — Russland
Аnastasia Mikhaylova
Leiterin Videoteam, The Insider — Russland
Awil Mohamud
Journalist — Somalia
Liliia Mongush
COO, Asians of Russia — Russland
Vladimir Motorin
Chefredakteur Agentstvo — Russland
Alena Ramanava
Journalistin, Novaya Gazeta — Belarus
Nasim Roshanaei
Chefredakteur, Zamaneh Media — Iran
Abdul Razzaq Al-Sabeeh
Journalist, Syria 360 — Syrien
Karen Shainian
Gründer, queer media Just Got Lucky — Russland
Filipp Smirnov
Productmanager, Russian Independent Media Archive (RIMA) — Russland
Lola Tagaeva
Gründerin und Publisher, Verstka — Russland
Woldegiorgis GHiwot Teklay
Gründer, Yabele Media — Ethiopien
Lilia Yuldasheva
Redakteur, Beda.media — Russland
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* Die Unterzeichner:innen dieses offenen Briefes sind ausländische Medienschaffende, die im Exil in Deutschland leben oder mit deutschen Medienorganisationen – unter anderem des Journalists in Need Network – aktiv kooperieren. Um den Appell zu unterstützen und den offenen Brief zu unterzeichnen, senden Sie uns bitte eine E-Mail an letter@jinn-media.org mit Ihrem Vor- und Nachnamen, Beruf, Medienorganisation und Herkunftsland. Für weitere Anfragen stehen wir Ihnen auch gerne zur Verfügung.